Die Greina erleben

Autor/in: 
Hans Urs Wanner

 

Unvergeßliche Bilder von einer Greina-Wanderung im Spätsommer: Der Ausblick vom Paß Diesrut in die weite und offene Plaun la Greina, die in der Abendsonne glänzenden Mäander des Rein da Sumvitg, die zerklüfteten Felsbänder des Muot la Greina und der Gaglianera, in leichten Nebelschwaden verhüllt der Piz Coroi und der Piz Ner. Bilder von einer herrlichen Landschaft - intakt und unbebaut - ohne Spuren unserer Zivilisation.

Nach einer kurzen Rast beginnen wir den Abstieg in die Talebene, um noch rechtzeitig vor dem Einnachten die Terri-Hütte zu erreichen. Glücklich, wieder einmal die Greina in ihrer Einmaligkeit erleben zu können! Dennoch beschäftigen mich auch beunruhigende Fragen: Wie war es möglich, daß während Jahrzehnten ein Projekt bearbeitet und verfolgt wurde, den Somvixer-Rhein zu stauen und die Greina-Hochebene zu überschwemmen? Ich höre die immer wieder vorgebrachten Argumente, daß der steigende Energiebedarf gedeckt werden müsse, da sonst die für unsern Lebensstandard nötigen Kilowattstunden fehlen. Die Statistiken der letzten Jahre zeigen tatsächlich immer noch einen Anstieg des Endverbrauches an Energie; dabei hat der Gesamtwirkungsgrad abgenommen. Wozu brauchen wir eigentlich immer mehr Energie? Wie ernst ist es uns eigentlich mit dem Programm «Energie 2000», das in den nächsten fünf Jahren eine Stabilisierung und dann sukzessive eine Verminderung des Energieverbrauches bringen soll? Ansätze dazu sind sicher vorhanden, doch sind all die Möglichkeiten für einen effizienten und sparsamen Umgang mit der Energie bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Große Möglichkeiten bestehen auch noch bei der Nutzung von erneuerbaren Energien, insbesondere der Sonnenenergie. Die Energie/Umwelt- sowie die Solar-Initiative können dazu viele wertvolle Impulse geben!

Beim Überqueren der Brücke über den rauschenden Somvixer-Rhein versuchen wir uns vorzustellen, daß hier eine Staumauer hätte gebaut werden sollen. Dank der unermüdlichen und hartnäckigen Bemühungen ist es gelungen, daß dieses Projekt schließlich nicht ausgeführt wurde. Die Greina-Hochebene bleibt in ihrem ursprünglichen Zustand und in ihrer einmaligen Schönheit erhalten, und der Somvixer-Rhein wird weiterhin mit seiner vollen Kraft über die Felsen der Frontscha stürzen. Hoffentlich können auch bei den zur Zeit noch bestehenden Stauseeprojekten rechtzeitig die nötigen Voraussetzungen geschaffen werden, daß auf deren Realisierung verzichtet werden kann. Es sollte doch möglich sein, herrliche Bergtäler wie das Val Curciusa, das Val Madris und das Val Bercla zu erhalten!

Dazu braucht es wirksame Rahmenbedingungen für einen sparsameren Umgang mit der Energie sowie auch angemessene Ausgleichsleistungen an die betroffenen Gemeinden. Notwendig ist aber auch ein Umdenken in unserer Haltung gegenüber der Natur. Es braucht die Einsicht und Überzeugung, daß die Natur nicht unbegrenzt verfügbar ist und nicht mehr länger nur als «Objekt» gesehen werden darf, das für all unsere Bedürfnisse genutzt werden kann. Beim heute notwendigen Schutz der Atmosphäre, der Gewässer, des Bodens und von Landschaften geht es noch um mehr als um unsere Gesundheit und unser physisches Überleben: es geht vor allem auch darum, den verlorengegangenen Kontakt mit der Natur wiederzufinden und sich mit ihr auseinanderzusetzen. In einer nur auf die Bedürfnisse ausgerichteten Umwelt kann sich der Mensch nicht mehr heimisch fühlen. Vielmehr brauchen wir Freiräume, in denen wir die Natur in ihrer Ursprünglichkeit erleben und erfahren können. Darin liegt wohl auch die Bedeutung, daß bisher noch unberührte Landschaften wie die Greina als solche erhalten bleiben - «intakte» und «nicht genutzte» Landschaften, die uns einen unmittelbaren Zugang zur Natur ermöglichen.

Philosophische Überlegungen allein bringen uns aber nicht weiter, wie ich selber kurz vor Erreichen der Terri-Hütte beim Ausrutschen auf einer glitschigen Steinplatte - erfahren muß. Gefragt sind realisierbare Zielsetzungen und ein möglichst konkretes Handeln im Alltag. Dazu gehört sicher ein sorgfältigerer Umgang mit der Energie und mit den uns verfügbaren Ressourcen. Auf diese Weise können wir viel dazu beitragen, daß uns die Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Verzicht auf einen maßlosen und, respektlosen Gebrauch von Gütern ist sicher nicht gleichbedeutend mit Verzicht auf Freude und Erleben, oder etwa Verzicht auf Lebensqualität. Vielmehr können wir dadurch Raum schaffen für neue Begegnungen und neue Erkenntnisse, die viel Gewinn und glückliche Stunden bringen, wie wir dies auf der heutigen Greina-Wanderung erleben konnten.

Quelle: Buch „La Greina“, Das Hochtal zwischen Sumvitg und Blenio, Schweizerische Greina-Stiftung (SGS), Verlag Bündner Monatsblatt / Desertina AG, Chur, 1997